Reportagen / Ouarda Saillo: Eine Frau, zwei Welten, zwei Leben

von: MICHAEL FUCHS-GAMBÖCK

Den 26. Oktober 1979 wird Ouarda Saillo niemals mehr aus ihrer Erinnerung löschen können: Es war der Tag, an dem der eigene Vater ihre Mutter auf dem Dach des Hauses der Familie in Agadir zunächst erstach und ihren Leichnam danach zur Unkenntlichkeit verbrannte. Wie so oft hatten Vater und Mutter an diesem Tag gestritten. Wie so oft deshalb, weil sie ihrem Gatten widersprochen hatte. Danach wurde sie stets verprügelt. Einmal hatte er die Mutter gar halb totgeschlagen, nur weil sie vor der Haustür nach ihren Kindern gerufen hatte und dabei nicht wie sonst in der Öffentlichkeit völlig verschleiert war. Doch dieses Mal musste etwas noch Schlimmeres zwischen den beiden vorgefallen sein. Vermutlich hatte die Mutter kurz das Haus verlassen, wie sich Ouarda erinnert. Das ist einer marokkanischen Frau verboten. Wie auch immer, die Mutter hatte etwas so Schlimmes getan, dass der Vater Ouarda und ihre Geschwister wie gewohnt zum Spielen nach draußen schickte, während er bei seiner Frau handgreiflich wurde. Die Mutter allerdings nahm an jenem 26.10.1979 Ouarda das erste Mal kurz zur Seite und flüsterte ihr hektisch ins Ohr: „Ouarda, dein Papa will mich umbringen heute. Bitte sag es den Nachbarn.“ Ouarda hatte Angst, den Nachbarn Bescheid zu geben Ouarda war damals fünf Jahre alt. Also ging sie mit den Geschwistern nach draußen zum Spielen. Und der Vater tötete die Mutter.

Dieses Verbrechen veränderte das Leben von Ouarda und den sechs Geschwistern. Nicht nur, weil die Kinder von diesem Tag an keine Mutter mehr hatten und der mörderische Vater fortan im Gefängnis steckte, wo er am 17.12.2001 auch starb. Sie wurden an diesem schicksalhaften Tag noch dazu obdachlos. „Wir dachten, schlimmer könne es nicht mehr werden“, erzählt Ouarda 25 Jahre später über dieses existentielle Erlebnis in ihrer Vita. „Doch es kam noch furchtbarer, nämlich dann, als unser Onkel mit seiner Familie in das Haus meiner Eltern einzog und seine acht Kinder unsere Betten erhielten. Wir hingegen mussten fortan in der Küche auf Zeitungspapier schlafen.“

Was folgte, war täglicher Horror, angefüllt mit körperlicher wie seelischer Brutalität, versuchter Vergewaltigung, Unterdrückung, Erniedrigung, Schuldgefühlen. Erst als Ouarda am 17. Juli 1993 – sie ist 19 – im Flieger von Agadir nach Deutschland sitzt, entkommt sie diesem Teufelskreis. Zumindest ihr Körper entkommt. Die Seele zieht erst nach, als der Schlußpunkt unter „Tränenmond“ gesetzt ist, das knapp 400 Seiten starke Buch, in dem sie die traumatischen ersten 19 Jahre ihres Lebens Revue passieren läßt. Die Seele zieht nach im Sommer vergangenen Jahres. Zumindest hofft Ouarda Saillo, dass es so ist.

Wer Ouarda dieser Tage in München trifft, ihrer Wahlheimat seit über zehn Jahren, der trifft eine fröhliche, selbstbewußte, gelassene und rundum zufriedene Frau. Nach außen hin jedenfalls. Denn die Narben auf ihrer Seele sind unsichtbar. Attraktiv ist die Marokkanerin mit dem so herrlich gesund aussehenden, kaffeebraunen Teint, die Hosen, Röcke, Blusen, Kostüme und Schuhe von „Gucci“ und „Prada“ scheinen nur für sie gemacht zu sein - „weswegen ich das Zeug auch so gerne trage“, wie sie mit einem verschmitzten Grinsen in ihrer Schwabinger Lieblings-Boutique verrät. Ja, die Ouarda Saillo dieser Tage ist, so scheint es, der prächtige Beweis dafür, dass man als Nordafrikanerin in Süddeutschland sein wahres Zuhause finden kann. Ouarda ist voll integriert in die Münchner Bussi-Gemeinde, ohne deshalb oberflächlich zu sein, sie hat einen gewaltigen Freundeskreis aus Deutschen, Afrikanern, Südamerikanern und Asiaten, sie ist gern gesehener Gast in chicen Lokalen oder bei Vernissagen, Lesungen und Konzerten.

Allerdings: Ouarda Saillo ist eine Frau mit Vergangenheit. Einer sehr schrecklichen Vergangenheit. Und die läßt sich nicht so einfach ablegen wie die Designer-Kollektion vom Vorjahr, die man im nächstbesten Schwabinger Nobel-Laden verramschen lassen kann. Denn eine Vergangenheit ist niemals Second Hand. Schon gar keine wie die von Ouarda Saillo.

Die 30jährige Model-Schönheit ist intelligent genug, um zu wissen, dass sie der traumatischen Vita zumindest ihrer ersten 19 Lebensjahre – also bevor sie von Marokko nach München zog – nicht entfliehen kann. Deshalb hat sie sich ihrer Geschichte schonungslos offen gestellt, ist die Flucht nach vorne angetreten. Und hat mit „Tränenmond“ eine der beeindruckendsten Biographien dieser Saison vorgelegt, fernab von dem nur die Luft scheppern lassenden Dampfgeplauder á la Becker oder Bohlen.

„Dieses Buch zu schreiben und jetzt als gedrucktes Exemplar in Händen halten zu dürfen, kommt einer Katharsis gleich“, sinniert Ouarda. „Seitdem fällt es mir viel leichter, mit meiner Vergangenheit umzugehen. Inzwischen hat jede Begebenheit, jede Person aus meiner Historie einen festen Platz in meinem Koordinatensystem. Das hilft mir sehr, mit der Gegenwart besser umzugehen. Ich bin heutzutage kein kleines Vögelchen mehr, das hilflos durch die Welt flattert. Ich weiß heutzutage, wer ich bin. In meiner Heimat wußte ich das nie.“

Die Heimat: Ouarda Saillo wurde am 24.1.1974 im Lehmhaus ihrer Großmutter in einem Kaff namens E-Dirh am Rande der marokkanischen Sahara geboren, nicht allzu weit von der Hafenmetropole Agadir entfernt, wohin die Eltern schon bald nach der Entbindung mit ihren insgesamt sieben Kindern zogen. Dort erlebte Ouarda vom ersten Tag an ihre ganz persönliche Hölle, die in den grauenvollen Mord mündete, mit dem auch das Buch „Tränenmond“ beginnt. Verfasst hat Ouarda ihre Lebensgeschichte zusammen mit ihrem zweiten Ehemann, dem Münchner Journalisten und Autor Michael Kneissler. „Ihn habe ich 1998 kennengelernt“, erzählt Ouarda mit einem Lächeln auf den sinnlichen Lippen. „Ich war mit dem damaligen Aupair-Mädchen seiner Kinder befreundet, ebenfalls eine Marokkanerin. Ich habe ihn in der Küche seiner Wohnung erstmalig getroffen und mich sofort in ihn verguckt, obwohl er 18 Jahre älter ist als ich. Nach zwei Tagen war uns beiden klar, dass wir uns lieben. Und wer weiß, vielleicht bekomme ich ja noch ein Baby von ihm?“

Ihr aktuelles „Baby“ ist derzeit allerdings ihr Buch, das inzwischen in den Top 50 der deutschen Verkaufsliste rangiert, Tendenz steigend, die Rechte dafür wurden bislang bereits in 15 Länder verkauft. „Schon mit 8, 9 Jahren wollte ich ein Buch über mich und meine Biographie schreiben“, sagt Ouarda. „Geschichten erfinden, das war mein Fluchtmittel vor einer Welt, die ich kaum ertragen konnte. Schließlich wurde ich in meiner Heimat von ganz vielen Menschen wegen meiner Vergangenheit gedemütigt – obwohl ich Opfer war und auch nicht ich meine Mutter getötet hatte. Doch so ist das in Marokko: Schuld an allem Unglück sind stets die Frauen. Wenn Frauen etwa vergewaltigt werden, so straft das öffentliche Urteil sie – wahrscheinlich war die Vergewaltigte zu aufreizend angezogen, vielleicht sogar geschminkt. Das hat den Mann gereizt. Er konnte nicht anders, er mußte sie vergewaltigen. So läuft das in einem Land, das patriarchal ausgerichtet ist.“

So lief das auch bei Ouardas Vater, der in den Verhören nach dem Mord an seiner Gattin seelenruhig erklärte, er habe die Ehefrau getötet, weil sie ihn nie geliebt hätte. Sie hätte sich geweigert, ihm beizuliegen. Hätte er sie nicht all die Jahre mit Gewalt seinem Willen unterworfen, gäbe es keine Kinder aus dieser Ehe. Diese Aussage wurde ihm vor Gericht – das ausschließlich mit Männern besetzt war – zu seinen Gunsten ausgelegt, minderte tatsächlich das Strafmaß. Eine Männerwelt war das, aus der eine junge, intelligente Frau wie Ouarda dringend möglichst rasch verschwinden wollte. Passenderweise endet „Tränenmond“ am Tag von Ouardas Abreise nach München. Dem Zeitpunkt also, seitdem Marokko für sie nur noch ein touristisches Ziel ist. Na ja, nicht ganz vielleicht: „Nach über zehn Jahren fühle ich mich in München sehr zu Hause“, bestätigt Ouarda mit energischem Kopfschütteln. „Nur wenn ich manchmal in Marokko bin, bleibt meine Seele immer noch eine Weile ohne mich da. Heimat ist eben, wo man herkommt. Auch wenn ich unter keinen Umständen wieder in Marokko leben möchte.“

Denn: „Schon als Teenager wollte ich unter allen Umständen weg von zu Hause, meine Vergangenheit dort war ausschließlich furchtbar, sie holte mich immer wieder ein, holt mich bis heute ein“, sagt sie. „Wobei: Casablanca hätte es als Fluchtpunkt auch getan, Hauptsache weg von den Verwandten, den Problemen. Doch dann habe ich, beinahe wie im Märchen, einen reichen Deutschen in meiner Heimat kennengelernt. Damals war ich 19, ich arbeitete in einem Restaurant, ich war arm, fühlte mich aber frei und war offen für jede Veränderung. Mein späterer erster Mann war vom ersten Moment an total in mich verschossen. So sehr, dass er mir anbot, mich zu heiraten und nach München mitzunehmen. Er war zwar knapp 30 Jahre älter als ich, doch er hatte eine sehr angenehme, fürsorgliche Art. Also dachte ich nicht lange über sein Angebot nach.“

Ouarda siedelte über nach München. Das Ende ihrer ersten Ehe kam schnell: „Walter und ich haben ziemlich rasch gemerkt, dass wir ein Märchen leben wollten, dem sich der Alltag entgegenstellt“, resümiert Ouarda. „Das konnte auf Dauer nicht gut gehen. Kurios daran: Als sich mein Mann und ich getrennt haben, ist mein Ex nach Marokko gegangen, wo er bis heute lebt, während ich in Deutschland geblieben bin. Ich war in dieser Zeit schon mit einem anderen Deutschen zusammen, er wurde auch der Vater von Samuel, meinem bislang einzigen Kind. Sami ist inzwischen acht.“

Samuel ist seit sechs Jahren zufriedener, glücklicher Bestandteil einer der wenigen „Patchwork-Familien“, die zu funktionieren scheinen: Während Ouarda nur den einen Sohn in die Ehe mit Michael Kneissler einbrachte, schlagen bei ihm gleich drei Kinder auf der Haben-Seite zu Buche. „Zwar haben wir vier Kinder aus verschiedenen Beziehungen und das ist manchmal im Alltag sehr anstrengend“, meint Ouarda. „Aber die Liebe zwischen Michael und mir ist stets stärker als irgendwelche Probleme.“

Und wie hat Sami auf das Buch seiner Mutter reagiert, weiß er davon? Ouarda zögert ein wenig, ehe sie erwidert: „Während der Arbeit am Buch habe ich meinem Sohn die Fragen beantwortet, die er mir so oft gestellt hatte: Wer sind meine Oma und mein Opa? Warum sind du und ich dunkelhäutiger als die meisten Menschen in München? Aus welchem Land kommen wir?

Ich habe Sami erzählt, dass sein Opa die Oma getötet hat. Dass wir Afrikaner sind. Dass ich nach Marokko nur noch reise, um dort Urlaub zu machen, niemals mehr dort leben möchte.

Klar, ich habe ihm das so kindgerecht wie möglich beigebracht. Und trotzdem wollte ich ihm die Wahrheit nicht ersparen. Schließlich war ich selbst viele Jahre lang eine Weltmeisterin im Verdrängen. So ein Schicksal wollte ich meinem Sohn auf keinen Fall zumuten. Ich will, dass Samuel niemals unterdrückt wird, stattdessen zu einem offenen, ehrlichen Menschen heranreift. Und dazu ist es notwendig, dass er meine Geschichte kennt, so schrecklich die sein mag. Damit er weiß, dass er so ein Leben nie führen muss.“

Und wie waren die Recherche-Aufenthalte in der alten Heimat? „Sehr nostalgisch“, gibt Ouarda zu. „Wobei ich mich in Marokko inzwischen – beinahe – wie eine Fremde fühle. Speziell mit dem moslemischen Frauenbild dort komme ich überhaupt nicht mehr klar, diesem Gedanken, dass wir Menschen zweiter Klasse sind, jedem Mann bedingungslos untergeordnet.

Ich glaube, die Frauen in Marokko finden mich cool, weil ich sehr selbstbewußt bin. Sie wünschen sich das insgeheim auch, vor allem die jüngeren unter ihnen: alleine reisen zu können, nicht den Blick vor den Männern abzuwenden beim Gespräch und an der Bar schon mal einen Gin-Tonic kippen. Die meisten marokkanischen Männer hingegen kommen nicht gut mit mir klar. Ich passe in keines der Klischees ihrem eng gesteckten Kosmos. Ich bin keine Hure, bin keine Heilige, bin kein Heimchen am Herd. Wahrscheinlich bin ich ein Störfaktor in ihrer geordneten Welt. Doch um ehrlich zu sein, mich belustigt das alles eher. Weil ich weiß, dass ich immer wieder von Marokko weggehen kann, wenn ich es dort nicht mehr aushalte.“ Und dann ist genug geredet, findet Ouarda. Sie ist unruhig, der Tag dort draußen in München ist zu schön, um ihn in einem noblen Restaurant zu verplaudern, so toll der Espresso auch schmecken mag.

„Meine Religion ist mittlerweile der Sport, nicht mehr der Islam“, grinst sie. „Denn mir ist wichtig, dass ich durch Religion zur Ruhe komme, mich sammle. Das passiert mir stets beim Joggen. Also ist Joggen heilig für mich, wenn man so will. Allerdings: Wenn ich gelegentlich verzweifelt bin, zitiere ich immer noch liebend gerne Koran-Verse. Die beruhigen mich ebenfalls.“

Und dann stapft sie entschlossen los, joggenderweise, der Zukunft entgegen. Die sieht rosig aus: Ouarda hat eine Ausbildung zur Kinderpflegerin hinter sich, sie hat einen Bestseller geschrieben, außerdem hat sie mit ihrem Gatten eine Hilfsorganisation in Marokko ins Leben gerufen, die sich um Mädchen kümmert, die in einer modernen Form des Sklaventums leben müssen.

Ouarda stapft los, unbeirrbar, den Blick nicht ein einziges Mal mehr nach hinten gewandt. Diese Zeiten sind im Leben der Ouarda Saillo vorbei. Endgültig vorbei.

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